Schrift trifft Bau. Was wäre die DDR-Architektur ohne ihre ikonischen Schriftbegleiter? Ausufernd schwingende Serifen, avantgardistisch komponierte Signets oder handgefertigte Neonzüge, halb Schrift, halb Bild, signierten nicht nur so manche Fassade, mit ihrer Ästhetik konnten sie ganze Gebäude dominieren, wie die Post in Dresden.
Baubezogene Schrift gehörte in der DDR – mehr als im Westen – zum Repertoire der baubezogenen Kunst, nicht zuletzt und gerade wegen der sozialistischen Interpretation des Werbeauftrags, die der Archigrafie als einer stilistisch-ästhetischen Verbindung von Architektur und Typografie neue Möglichkeiten einräumte. Wie diese Möglichkeiten ausgeschöpft wurden und was die Schrift am Bau in der DDR besonders machte, dem spürt dieser Beitrag nach.
Zeichen zwischen den Systemen
Ein erster Zugang zum Verständnis der Archigrafie in der DDR findet sich in Meyers Neuem Lexikon: Werbung ist die „bewußte, zweckgerichtete Beeinflussung von Menschen, die der zielgerichteten Durchsetzung politischer, kultureller und wirtschaftlicher Interessen dient und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt. […] Im Kapitalismus artet die Werbung in marktschreierische, täuschende und kostspielige Reklame aus, die zur bedenkenlosen Konsumentenmanipulierung genutzt wird, rigoros eingesetztes Mittel im Konkurrenzkampf ist und letztlich der Profitsicherung dient. Im Sozialismus muß die Werbung den Erfordernissen und dem realen Leistungsvermögen der Volkswirtschaft entsprechen, die Erfüllung der Volkswirtschaftspläne sichern, in ihrem Aussageinhalt umfassend und wahrheitsgetreu informieren, dem Konsumenten eine zweckmäßige Warenauswahl erleichtern und zur Sicherung sozialistischer Verbrauchsgewohnheiten beitragen.”[1]
Folgt man der Darstellung, waren Werbebotschaften in der DDR nicht mehr und nicht weniger als politisch motivierte Verbraucherinformationen, die der Steuerung einer konkurrenzlosen Volkswirtschaft dienten. Vor dem Hintergrund der Versorgungslage galt es aus Sicht der SED zudem, die Leser:innen dieser Botschaften zu einem adäquaten, mitunter entbehrenden Konsumverhalten anzuhalten. Das entkoppelte zwar die baubezogene Schrift der DDR vom verheißungsvollen Werbeauftrag des Westens, änderte aber weder etwas an ihrer politischen noch an ihrer essentiellen Funktion: Schriftzüge im öffentlichen Raum, am besten noch leuchtende, waren spätestens seit den 1920er Jahren für die Imagination von Urbanität und Identität unerlässlich – jenseits von politisch-agitatorischen Botschaften und lokaler Information.
Ikonisches in der Karl-Marx-Allee
Unsere archigrafische Spurensuche beginnt in der Berliner Karl-Marx-Allee, die in mehreren Bauabschnitten zwischen 1949 und 1969 zum Prachtboulevard der ostdeutschen Hauptstadt ausgebaut wurde.
„Kaffee und Tee“ steht über dem Caféeingang an einem der Zuckerbäckerbauten am Frankfurter Tor. Harmonisch schmiegen sich die gelben und roten, im Abendlicht orangefarben leuchtenden Buchstaben an die stalinzeitliche Architektur. Wie mit einer Tortenspritze aufgetragen ist das Schriftbild zu einer eng geneigten Handschrift geformt. Drei Zeilen, ein leichter Versatz und ein Unterstrich, der in seinem markanten Schwung an das Schriftbild von Kreidetafeln erinnert. Geradezu typisch ist das Unspezifische. Es gibt Kaffee und Tee – nicht Kaffee Hausbrandt oder Jacobs Krönung – und das ist es, was den Werbezug von seinen Pendants im Westen unterscheidet und ihn in die Nähe einer formalen Verbraucherinformation rückt.
Mindestens ebenso ikonisch thront der Schriftzug „Cafe Sibylle“ im neoklassizistischen Bauambiente des Boulevards. Geschwungene Leuchtstoffröhren weisen damals wie heute den Weg in eines der renomiertesten Cafés der Stadt. Hier verkehrten die Koryphäen des namensgebenden und exklusivsten Magazins der DDR. Modenschauen elektrisierten die Abende, über Jahre stellte die „Sibylle“ für Redakteur:innen, Fotograf:innen und Models des Magazins eine zweite Heimat dar. Nicht zuletzt die Historie des Ortes dürfte das Landesdenkmalamt dazu bewegt haben, die auf Betreiben der SED angebrachte Leuchtreklame über der Eingangstür unter Schutz zu stellen.
Weiter im Westen der Karl-Marx-Allee zeigt die Ostmoderne ihre Schriftbilder. Anfang der 1960er Jahre entwarf der Grafiker Klaus Wittkugel den Namenszug für Josef Kaisers Café Moskau. Streng geometrisch konstruiert steht die klare Struktur der halbfetten Grotesk-Schrift im krassen Gegensatz zu den breit liegenden Handschriften im älteren Teil des Boulevards. Präzise nehmen die weißen Versalien die strenge Genauigkeit des rechtwinkligen Baus mit seinen mathematisch anmutenden Betonstrukturen auf. In ähnlicher typografischer Manier ist der serifenlose Versalienzug am Kino International gehalten, gleich gegenüber, der in weiter Spationierung geradezu sinnbildlich die Leichtigkeit seines Trägerbaus unterstreicht.
Ungeachtet der hohen Bedeutung, welche die Grotesk-Schrift auch in der Spätphase der DDR innehatte, zeigen die 1970er und 1980er wieder vermehrt Bezugnahmen auf das archigrafische Bild der 1950er. Ein beinahe berühmtes Beispiel dafür ist der Zierfische-Schriftzug, der sich ebenfalls am Frankfurter Tor, gegenüber von „Kaffee und Tee“ befand. Er beruht auf der Handschrift des Schrift- und Reklamemalers Manfred Gensicke, der ihn entwickelte, und besticht durch die Verbindung von traditioneller Schreibschrift und stilprägender Neongrafik. Mittelblau am Tag und leuchtend Gelb in der Nacht passt die geschwungene Typo farblich wie formal zu den Bauten des Boulevards. Mit den bunten Neon-Fischen, die in comicartiger Manier an der Hausecke schwimmen, verschmilzt der Schriftzug spielerisch zu einer augenzwinkernd bildhaften Komposition, mit einem großen „Z“, das selbst an einen Zierfisch erinnert.
Dieser wohl mehr Erinnerungen als neue Erkenntnisse hervorrufende Spaziergang in der Karl-Marx-Allee zeigt, dass die baubezogenen Schriftzüge – ja vielmehr Schriftbilder – Bestandteil der baubezogenen Kunst der DDR waren und zugleich eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die urbane und speziell auch stadtbildlich-harmoniestiftende Signatur des Boulevards besaßen, die weit über die Ästhetisierung des Einzelbaus hinausging.
Dresdner Einflüsse
Von Berlin nach Dresden. Der Schriftgussbetrieb VEB Typoart Dresden prägte maßgeblich die ostdeutsche Typografie. Grafiker und Schriftsetzer wie Gert Wunderlich, Herbert Tannhaeuser, Albert Kapr oder Franz Ehrlich entwarfen hier Schriften, die auf nahezu allen ostdeutschen Druck- und Werbeerzeugnissen zu finden waren und heute zum lebendigen, gestalterischen Erbe der DDR gehören. Mitunter wurden die hier entwickelten Schriftbilder auch gezielt als Alternativen zu westlichen Typografien gezeichnet. So Arno Dreschers Super Grotesk, die von der Futura beeinflusst war und letztlich zur meistgenutzten Schrift der DDR wurde. Ein weiteres Beispiel ist Gert Wunderlichs Maxima, die als humanistische Groteskvariante mit niedriger Mittellänge und weit laufender Spationierung als sachlich leichtes Pendant der Helvetica Max Miedingers gesehen werden kann.
Auch wenn diese Typoart-Schriften nur selten eins zu eins in baubezogene Schriftzüge oder Schriftbilder umgesetzt wurden, so war doch ihr Einfluss auf die Archigrafie unverkennbar. In den 1960er Jahren waren es vor allem die oben genannten Gebrauchsschriften Super Grotesk und Maxima, die das Design der mehrheitlich unikat gefertigten Buchstabensignets prägten. Ebenso finden sich bildhafte und plastische Anleihen an Auszeichnungsschriften, wie die für die Werbung hergestellte Quadro von Erhard Kaiser, beispielsweise an der Markthalle Berlin oder an der „Teetasse“ am Berliner Haus der Statistik.
In den späteren baubezogenen Schriften lassen sich mit der Renaissance der handschriftlichen Signatur wiederum vermehrt Anleihen an serifenbetonte Antiquaschriften beobachten. Stilprägend wirkte hier in besonderer Weise Albert Kaprs Leipziger Antiqua, die gerade in den halbfetten und fetten Garnituren „ihre Herkunft aus dem Schreiben mit der Breitfeder nicht verleugnen“ wollte. So wurde die Leipziger Antiqua auch als Schrift gesehen, die „etwas vom Wollen und der Größe und der Zuversicht der Gegenwart in die Formenwelt“ der Typografie einbringen kann und die mit der ihr innewohnenden Zitation des Art Déco geradezu prädestiniert erschien, in ihrer Vorbildwirkung auch die baubezogenen Schriftzüge für die gesamtgesellschaftlichen Sehnsüchte nach Urbanität und Vitalität zu sensibilisieren.[2]
Neon-Müller
Aller typografischer Signets zum Trotz, wirklich urban im klassischen Sinne wird Schrift erst, wenn sie leuchtet. Neonleuchten, also unter Zugabe von Elektrizität aus sich selbst heraus leuchtende Gasröhren, wurden in den 1920er Jahren zu Zauberstäben der Großstadt. Und die gab es natürlich auch in der DDR, wenn auch aufgrund der hohen Kosten in weit geringer Zahl als im Westen. Zentral für das Leuchten in der DDR war ebenfalls Dresden, denn dort wirkt seit 1926 und bis heute die Firma Neon-Müller. Ihr Gründer, der Elektromeister und Kunstschlosser Fritz Müller, erkannte das Potential des gerade entdeckten Gases und begann in den späten 1920er Jahren, für zahlreiche Unternehmen in und um Dresden Leuchtwerbungen zu installieren.
Während der DDR blieb das Unternehmen in den Händen des Sohnes, Frank R. Müller, der mit seinen Mitarbeitern eine Vielzahl von Leuchtbildern im gesamten Land realisierte, sodenn man diese nicht – sei es aus Kosten-, Überproduktion oder Qualitätsgründen – aus Polen importierte. Für seine Heimatstadt gestaltete Neon-Müller die Leuchtschrift „Dresden grüßt seine Gäste“, die unter Denkmalschutz stehende Werbung für das „prickelnd frische“ Margonwasser – eine der wenigen Branding-Kampagnen der DDR – sowie das Schriftbild „Der Sozialismus siegt“, das zwischen 1968 und 1987 (!) vom Hochhaus am Pirnaischen Platz in die Stadt strahlte. Daneben finden sich zahlreiche kleinere Schriftzüge aus dem Hause Neon-Müller, die den Alltag der Stadt zum Teil bis heute erhellen.
Museumsschriften
Andere Schriftbilder aus der DDR sind auf dem Weg ins Museum oder bereits dort angekommen. Die Zierfische beispielsweise mussten einer Sanierung weichen und sind daher seit gut zehn Jahren ein Kernstück des Berliner Buchstabenmuseums. Die Schriftzüge des Leipziger Bowlingtreffs wollte bislang auch niemand wegwerfen.
Und in Chemnitz, wo der öffentliche Raum langsam aber sicher auch seiner historischen Signaturen beraubt wird, hatte das Institut für Ostmoderne bereits 2019 eine Rettung von Buchstaben aus der DDR initiiert. Das sichergestellte Fragment aus der Leuchtwerbung „Edeka am alten Stadttor“ konnte vom 23. bis zum 31. Oktober 2019 im Open Space des Gunzenhauser Museums besichtigt werden.
Für die Bilder in diesem Beitrag bedanken wir uns herzlich bei Martin Maleschka. Weiterführend zum Thema Archigrafie empfehlen wir das Herbstheft Zeichen und Wunder von moderneRegional aus dem Jahr 2019, in dem auch dieser Essay erstmals erschienen ist.
[1] Meyers Neues Lexikon, 2., völlig neu erarbeitete Auflage in 18 Bänden, Bd. 15, Leipzig 1977, S. 149.
[2] Vgl. Bergner, Walter, Entwurf und Herstellung von Schrifttypen in Ostdeutschland, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 6, 1996, S. 405-436 und vgl. Kapr, Albert / Schäfer, Detlef, Fotosatzschriften, Itzehoe 1989, S. 95.